Achtsamkeit als Therapie gegen chronische Schmerzen

In unserem Inneren steckt eine große Kraft. Wenn wir sie bewusst einsetzen und lernen, richtig mit ihr umzugehen, kann sie Unglaubliches bewirken. Eine Behandlungsmethode aus der alternativen Schmerztherapie ist gerade sehr erfolgreich: die “MindfulnessBased Stress Reduction” (MBSR), übersetzt: “achtsamkeitsbasierte Stressreduktion”. Das Besondere an ihr: Sie beruht nicht auf äußeren Anwendungen, zum Beispiel durch einen Heilpraktiker, sondern auf einer bestimmten inneren Geisteshaltung des Patienten.

Diese Therapie der Achtsamkeit hat ihre Wurzeln im Buddhismus und lehrt die Kunst, sich ganz auf den Moment zu besinnen. MBSR zur Stressbewältigung wurde schon 1979 von dem Molekularbiologen Prof. Jon Kabat-Zinn an der medizinischen Fakultät der Universität von Massachusetts entwickelt. Per MBSR nun aber auch chronische Schmerzen zu behandeln ist ein völlig neuer Ansatz – mit dem Therapeuten schon vielen Betroffenen helfen konnten.

MIT ACHTSAMKEIT DIE SCHMERZEN ANDERS WAHRNEHMEN

In einem achtwöchigen Trainingsprogramm lernen die Patienten Achtsamkeit als Geisteshaltung – mit dem Ziel, ihre Schmerzen in erster Linie anders wahrzunehmen. Das heißt, sie spüren sie zwar, bewerten sie aber nicht mehr mit einem negativen Gefühl. Den Schmerz aufmerksam zu beobachten statt gegen ihn anzukämpfen steht im Zentrum der Methode. In der Vergangenheit funktionierte sie übrigens nicht nur bei Schmerzpatienten, sondern konnte auch Schlafstörungen, Depressionen und ein geschwächtes Immunsystem stärken.

Achtsamkeitsübungen erfordern alle Sinneseindrücke

Um diese intensive Art der Wahrnehmung zu erlernen, trainieren die Patienten am Anfang der Therapie die Rosinen-Übung. Dabei geht es darum, die kleine, unscheinbare Rosine so ausführlich wie möglich zu beschreiben und dabei alle Sinneseindrücke einfließen zu lassen.

BEI ACHTSAMKEIT IST VIEL MEDITATION NÖTIG

Der Ablauf des Trainingsprogramms folgt einem festen Plan. Auf die Rosinen-Übung aus den ersten Stunden folgt ein Körper-Scan. Auch er dient dem Erlernen der achtsamen Geisteshaltung. Dabei legen sich die Patienten auf eine Yogamatte und schließen die Augen. Von ihrem Lehrer bekommen sie Anweisungen wie: “Lenken Sie jetzt Ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Ringfinger Ihrer rechten Hand.” Die Übung dauert zwischen 30 und 45 Minuten und ist vor allem für ungeübte Patienten oft sehr schwer: Beim geistigen Abtasten ihres Körpers schweifen die Gedanken immer wieder ab. Wichtig bei dieser Übung: Das dürfen sie auch! Es kommt vielmehr darauf an, diese Gedanken wahrzunehmen und – wie später auch den Schmerz – nicht zu bewerten.

Meditationsübungen helfen bei Kopfschmerzen

Auf den Körper-Scan folgen mehrere Wochen lang verschiedene Meditationsübungen. Eine davon ist etwa, sich vorzustellen man sei ein Wal, der über seine Scheitelöffnung ein- und ausatmet. Vor allem bei Kopfschmerzpatienten ist diese Übung sehr wirksam, weil sie diese imaginäre Öffnung als Ventil für ihre Schmerzen nutzen können – und sie so ganz einfach loslassen.

NEGATIVE EREIGNISSE KÖNNEN MIT MEHR ACHTSAMKEIT BESSER BEWÄLTIGT WERDEN

Wissenschaftler maßen bei ihren Probanden Hirnströmungen und stellten dabei fest: Diese Meditationsübungen sorgen dafür, dass die linke Gehirnhälfte sehr viel aktiver wird. Vor der Meditation war die rechte Gehirnhälfte die dominante. Eine hohe Aktivität der linken Hirnhälfte sorgt jedoch für eine schnellere – und bessere – Bewältigung negativer Ereignisse und Stress.

Wirkung von Achtsamkeit ist wissenschaftlich bestätigt

Prof. Jon Kabat-Zinn kann die positiven Auswirkungen der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion bestätigen. In einer Untersuchung mit 90 chronisch kranken Schmerzpatienten stellte er fest, dass diese 15 Monate nach der Therapie deutlich weniger Schmerzmittel brauchten und seltener an Angstzuständen und Depressionen litten. Bei einer Vergleichsgruppe, die konventionell behandelt wurde, konnte diese Entwicklung nicht festgestellt werden.

ZEIT UND GEDULD IST WICHTIG BEI ACHTSAMKEITSÜBUNGEN

Das komplette Erlernen dieser Geisteshaltung ist nach dem achtwöchigen Programm noch lange nicht beendet. Oft brauchen die Patienten weitere Monate, bis sie deutliche Erfolge bei sich feststellen. So viel Zeit und Geduld bringt nicht jeder potenziell behandelbare Patient mit. MBSR-Lehrer müssen daher genau abwägen, ob die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion für den Patienten der richtige Weg ist. Nur dann lohnen sich die Kosten von 250 bis 350 Euro.

Der richtige Achtsamkeitstrainer ist wichtig

Einen geeigneten Therapeuten findet man zum Beispiel auf der Seite des europäischen Zentrums der Achtsamkeit oder beim MBSR-Verband Deutschland. Die Art der Krankheit spielt für die Eignung hingegen keine große Rolle. Entscheidend für den Erfolg ist die Willensstärke des Patienten.

DIE SECHS SÄULEN DER ACHTSAMKEIT

Bewusstsein: Achtsamkeit heißt, sich vollkommen bewusst darüber zu sein, was in einem bestimmten Augenblick passiert – aber ohne das Wahrgenommene in irgendeiner Form zu bewerten.

Gegenwart: Achtsamkeit findet in der Gegenwart statt. Zukunft und Vergangenheit spielen in dieser Wahrnehmung keine Rolle.

Wohlwollen: Die Gegenwart mit einer bestimmten Haltung zu beobachten gehört zur Achtsamkeit dazu. Diese sollte offen, wohlwollend, neugierig und unvoreingenommen sein.

Buddhismus: Buddha lehrte die drei Grundlagen der Achtsamkeit. Er unterschied dabei Achtsamkeit in Bezug auf den Körper, die Sprache und die Gefühle & Gedanken.

Meditation: In der Achtsamkeitsmeditation wird jeder aufkommende Gedanke willkommen geheißen, ohne einen dem anderen vorzuziehen. Im Yoga wird die Achtsamkeitsmeditation Sakshi Bhavana genannt. Im Buddhismus kennt man sie unter dem Namen Vipassana.

Herz: In asiatischen Sprachen wird das Wort “Herz” und das Wort “Geist” mit dem gleichen Zeichen benannt. Bei Achtsamkeit geht es also nicht nur um Bewusstsein. Sie muss auch eine Herzenssache sein, um richtig verstanden zu werden.